Fremdenfeindlichkeit in einer dunklen Zeit
(von Theo Rütten)
Das Jahr ist 1944. Eine dunkle Zeit.
Der Terror herrscht in Deutschland und auch in Krefeld. Von den ursprünglich 1.600 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde sind die meisten ins KZ verschleppt und nur wenige werden überleben. Auch in Krefeld wird der nationalsozialistische Terror sicher nicht von allen Bürgern unterstützt; kaum einer traut sich jedoch, Kritik zu üben, geschweige denn, oppositionell tätig zu werden. Der Kampf um das eigene Überleben steht an erster Stelle. Im Jahr zuvor ist fast der gesamte lnnenstadtbereich Krefelds von britischen Bombern zerstört worden. Es gab 1000 Tote. Dunkle Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes für die Krefelder, die Nacht für Nacht vor Bombenangriffen zittern.
Noch dunklere Zeiten aber für die Opfer des deutschen Angriffskrieges, z. B. die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen, die es auch in Krefeld gab und über deren unmenschliche Behandlung vor einiger Zeit eine Studie erschienen ist. 1,8 Millionen Kriegsgefangene und 5,3 Millionen Fremdarbeiter werden am 31. Mai 1944 in der deutschen Wirtschaft gezählt – unter ihnen einer aus Italien, der in einer Bäckerei auf der St. Töniser Straße 20 arbeitete.
Es hat bis 1997 gedauert, bis dieser Michele Latorre, heute in Turin wohnhaft, wieder Kontakt aufnehmen konnte zu der Bäckerfamilie, für die er damals arbeitete. Aus dem Briefwechsel, der zwischen ihm und der Bäckersfamilie stattfand und heute noch stattfindet, ergeben sich Einsichten in die damalige Zeit, vor allem aber auch die Erkenntnis, dass Menschlichkeit selbst in dunkelsten Zeiten und innerhalb eines unmenschlichen Systems ihren Platz haben kann. Michele Latorre, Jahrgang 1919, kam, wie er schrieb, in Griechenland 1943 in deutsche Gefangenschaft. Der ehemalige Verbündete Italien war im Juli 1943 in das Lager der Kriegsgegner Deutschlands übergegangen. So wurden aus den italienischen Soldaten Kriegsgegner.
Michele Latorre wurde gefangengenommen und in ein Kriegsgefangenenlager in Deutschland transportiert. Er schreibt in einem seiner Briefe, dass man in diesem Lager nur zwei Dinge machen durfte, „arbeiten und verhungern“. Sein Fluchtversuch aus diesem Lager gelingt, er wird aber erneut gefangengenommen und 1944 in ein Arbeitslager nach Krefeld gebracht. Als man ihn dort fragt, in welchem Bereich er arbeiten könne, antwortet er „Ich bin Bäcker.“ Dies war eine Notlüge. Wie er schreibt, hat die „glatte Lust nach Brot“, die Angst vor dem Verhungern also, ihn zu dieser Aussage veranlasst.
Die Lagerleitung teilt ihn der Bäckerei auf der St. Töniser Straße zu. Dort wird bald deutlich, dass Michele keine Ahnung von den Dingen hat, die ein Bäcker tun muss. Der Besitzer zeigt ihn aber nicht bei den Behörden an. Michele Latorre schreibt: „Trotz meiner Lüge hat mich der liebe… bei sich behalten und mir alles beigebracht, was das Brotbacken anging.“
Die Bäckerei wird 1944 bei einem Bombenangriff zerstört. Die Familie zieht zu einem Bruder des Besitzers und nimmt Michele mit. Die Tochter der Familie begleitet Michele, wie er in seinem ersten Brief nach Deutschland schreibt: „in die Kirche und beim einkaefe“ (Originalschreibweise). Kriegsgefangene durften sich nur mit Begleitung in der Stadt bewegen, die deutsche Begleitperson hatte den Pass bei sich zu führen.
Das mit „einkaefe“ das Einkaufen nur überlebenswichtiger Dinge gemeint sein kann, ist selbstverständlich. Das der Kriegsgefangene über Geld verfügte, keineswegs. Auch hieran – an die Großzügigkeit der Bäckerfamilie – erinnert Michele Latorre in einem Brief. Er schickt eine der Reichsbanknoten, die er 1944 erhalten und bis heute aufbewahrt hatte.
Am 04.03.1945 wird Michele Latorre von den Amerikanern befreit. Er versucht in den 50er Jahren, Kontakte zur Bäckersfamilie wiederherzustellen, verwechselt jedoch die St. Töniser Straße mit der St. Anton Straße. Und dort gab es keine Familie mit dem Namen, den er angab. Im Juli 1997 schreibt er an eine Frau in Krefeld, die einen ähnlichen Namen wie die Bäckersfamilie trägt und diese Frau leitet den Brief an die richtige Person weiter, nämlich an den im Grönland lebenden Sohn der Bäckerfamilie. Der Kontakt ist wiederhergestellt, nach 52 (!) Jahren.
Michelle schreibt in seinem zweiten Brief „ich habe dicke Träne nicht zurückhalten können und habe geweint wie ein Kind, so war ich vor lauter Erinnerungen ganz überfallen.“ (Originalschreibweise ). Und er schreibt vom inzwischen verstorbenen damaligen Bäckermeister, der ein „Edelmann“ war und die ebenfalls verstorbene damalige Bäckersfrau nennt er „zweite Mutter“. Er weiß noch genau, wie alle nach der Zerstörung der Bäckerei in einem Zimmer schlafen mussten, der Bäckerssohn, damals 14, neben ihm.
Eine sicherlich rührende Geschichte. Und eine aus unserem Bezirk, aus Grönland.
Sie soll nicht davon ablenken, dass die Welt in diesen Jahren vor allem Terror und Brutalität von deutscher Seite erleben musste. Aber es gab vereinzelt auch Zeichen der Menschlichkeit. Und diese Zeichen machen Mut, auch heute, Jahrzehnte nach dem Ende jener schrecklichen Zeit. Wie sagt Michele Latore es treffend in einem Brief „Ich hoffe und wünsche niemand, das zu erleben, was wir während den Krieg gelitten haben.“ (Originalschreibweise). Dem ist nichts hinzuzufügen.